Heimatlose Seelen

 

Zur Ausstellung
»Der Gral. Artusromantik in der Kunst des 19. Jahrhunderts«
in München

(c) 1996 Celtoslavica
All Rights Reserved!


Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwachte in Mittel- und Westeuropa unter einer erstaunlich großen Anzahl von Menschen eine tiefe Sehnsucht nach den Gestalten und Motiven der Grals- und Artussage, die sich nicht zuletzt dadurch verstärkte, daß die mittelalterlichen Grals- und Artus-Zyklen durch wissenschaftliche Ausgaben erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Eine kleine, aber sehr eindrucksvolle Ausstellung, die vom 25. Oktober 1995 bis zum 21. Januar 1996 in drei Sälen des Bayerischen Nationalmuseums zu sehen ist, versucht diese Sehnsucht zu dokumentieren, hinter der sich weit mehr verbirgt als die bloße romantische Schwärmerei für ein idyllisiertes Mittelalter. Die sorgfältig ausgesuchten Exponate vermitteln dem Besucher eine Vorstellung von der geradezu religiösen Erwartungsstimmung der damaligen Zeitgenossen, in deren Mittelpunkt die Vision des Gralstempels sowie des Erlösung spendenden Grales selbst stehen.

Die Ausstellung vereint u.a. die Rekonstruktion des Gralstempels von Sulphiz Boisserée (1835), den wie ein Altarbild gestalteten 'Parzival-Zyklus' des Malers Edward von Steinle (1884), den von Theodor Heiden höchst prunkvoll gefertigten Tafelaufsatz 'Der Gral' (1900) und die faszinierend-originelle Gralsschale von Richard von Kralik (1889), auf der die Geschichte des Edelsteins aus der Krone Luzifers Darstellung findet. Gleich zu Beginn der Ausstellung stößt der Besucher auf zwei besondere Kostbarkeiten: die berühmte Handschrift Codex germ. 19 der Bayerischen Staatsbibliothek mit Wolframs Epen 'Parzival' und 'Titurel', welche die vielleicht früheste bildliche Darstellung des Grals enthält, sowie die 'Fernberger-Dietrichsteinische Handschrift' mit dem 'Jüngeren Titurel' Albrecht von Scharfenbergs, dessen Beschreibung des Gralstempels im 19. Jahrhundert als Vorbild aller architektonischen Entwürfe von Gralsburg-Imitationen diente.

Völlig versunken in die Bilderwelt des Grals und seiner Diener war bekanntlich der junge bayerische König Ludwig II. Ihm ist ein eigener Raum gewidmet. Schon lange vor seiner Begegnung mit Richard Wagner im Jahr 1864 hatten den heranwachsenden Ludwig die Lohengrin-Fresken des Schwanenrittersaals der väterlichen Burg Hohenschwangau in den Bann geschlagen. Die Ausstellung zeigt Entwürfe und Aufrisse von Sälen aus den beiden als »Gralsburg« konzipierten Schlössern Neuschwanstein und Falkenstein. Auffallend ist die direkte Anlehnung an byzantinische Vorbilder wie etwa die Hagia Sophia mit ihrer Zentralkuppel; vielleicht geht man mit der Annahme nicht fehl, daß die Sakralarchitektur Armeniens und Georgiens einen noch viel gewaltigeren Eindruck hinterlassen hätte, wenn sie damals größeren Kreisen bereits bekannt gewesen wäre.

Auch Richard Wagners Umsetzung der Gralssage in musikalische Mysterien-Weihespiele wird anhand von Bühnenbildentwürfen für den Gralstempel in 'Parsifal' (Paul von Joukowsky 1882, Franz A. Rottonara 1914) und Requisiten wie dem mit Batterien und einer Glühbirne (!) ausgestatteten Gralspokal dokumentiert. Wagner, der durch sein künstlerisches Schaffen einem neuen geistigen Impuls den Boden bereiten wollte, war sicherlich die zentrale Gestalt unter den »heimatlosen Seelen«. Im Jahr 1851, als er am Entwurf des 'Ring des Nibelungen' arbeitete, hoffte er noch, daß Süddeutschland Zentrum einer neuen Mysterienkultur werden könnte:

    »Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf, und lade zu einem großen dramatischen Feste ein: nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen; das jetzige kann es nicht.«[1]

Diese »heimatlosen Seelen« mit ihren oft tragischen Schicksalen lebten in der Erwartung von etwas Großem, das damals auf der Erde nicht Wirklichkeit werden konnte... Anfang 1833 fuhr der 20jährige Richard Wagner von Würzburg nach Bamberg; dabei hörte er von dem um neun Monate älteren Kaspar Hauser, dessen Schicksal ihn auf eigentümliche Weise tief bewegte. (Kaspar wurde im Dezember desselben Jahres ermordet.) Er bildete sich später sogar ein, »das Kind Europas« auf dieser Reise gesehen zu haben. Etwas von der Gestalt Kaspars floß jedenfalls in Wagners Vorstellung des elternlosen, nach der Mutter suchenden Parsifal, des »reinen Toren«, ein. Das Schicksal führte Wagner 1857 nach Karlsruhe, wo ihn der 45jährige Kaspar als Großherzog hätte empfangen können. Nun aber war es Großherzogin Luise von Preußen, die nach nach seinen Werken verlangte. Der Plan wurde erörtert, 'Tristan und Isolde' in Karlsruhe, »am Rheine«, aufzuführen. Hier begann auch Wagners fruchtbare Zusammenarbeit mit dem außerordentlichen Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld. Doch das Schicksal blieb unerfüllt. Unbefriedigt verließ Wagner die Stadt 1862, um zwei Jahre später in Ludwig II., dem Cousin von Kaspar, seinen größten Gönner zu finden.

Besonders aufschlußreich ist die Münchner Ausstellung nicht zuletzt durch die Einbeziehung von Repräsentanten des britischen 'Arthurian Revival'; so wird deutlich, daß die erwartungsschwangere Sehnsucht nicht auf Mitteleuropa beschränkt blieb, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen war, das in besonderem Maße die britischen Inseln mit der europäischen Mitte verband. Gemälde, Zeichnungen und Tapisserien von Edward Burne-Jones, James Archer, Dante Gabriel Rossetti und Aubrey Beardsley legen hiervon Zeugnis ab; erwähnt werden muß aber auch das literarische Werk von Lord Alfred Tennyson. Damals wurde in England vor und hinter den Kulissen um die eigentliche geistige Aufgabe des weltumspannenden Britischen Empire gerungen. Äußerlich setzte sich schließlich auch hier die Gegenströmung mit ihrem politischen Hauptrepräsentanten Lord Alfred Milner durch, der zwar das Artus-Motiv aufgriff und 1909 einen logenähnlichen Round Table ins Leben rief, jedoch in machtpolitisch zerstörerischer Weise wirkte. Gerade München beherbergt zahlreiche künstlerische Zeugnisse für die eigenartige Tatsache, daß im 19. Jahrhundert durchaus nicht nur das Motiv des Gral, sondern auch das des Anti-Gral neu auflebte. Salome als laszive Kundry-Gestalt mit dem Kopf des enthaupteten Täufers in der Schüssel: ein dunkel schillerndes Bild, das auf Maler wie Franz Stuck und Aubrey Beardsley oder Komponisten wie Richard Strauss gleichermaßen vertraut-anziehend wirkte. Und es gehört zum Schicksal Münchens, daß in der Stadt schließlich nicht der von Rudolf Steiner geplante Johannes-Bau errichtet werden konnte, aber das 'Braune Haus' als Ausgangspunkt der späteren Nazi-Diktatur ...

Wertvoll auch der Ausstellungskatalog, der im Dumont-Verlag erschienen ist; darin findet man Farbabbildungen aller Exponate, aber auch einige grundlegende Artikel zur Rezeption des Gralsmotivs vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Den Organisatoren des Bayerischen Nationalmuseums ist mit dieser Ausstellung weit mehr gelungen als die Evokation einer kuriosen kunsthistorischen Epoche; der Besucher empfängt Eindrücke, die bei vertiefendem Nachsinnen mitunter ein helles Licht werfen auf das ebenso gewaltige wie tragische Weltgeschehen der letzten beiden Jahrhunderte.

 

[1] Zit. nach Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert. München 1980, S. 348.

 

| Bibliothek | CeltoSlavica Home |