Von der Humanität durch Nationalität

zur Bestialität

 

 

Die mitteleuropäische Völkerfrage im 19. Jahrhundert

 

Dem Andenken Karl Heyers (1881-1964) gewidmet

 

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Die Tragödie des 19. Jahrhunderts
Im Jahr 1849 prägte ein kluger Österreicher die prophetischen und zugleich für das Bildungsideal der Aufklärung vernichtenden Worte:

    »Der Weg der neuern Bildung geht
    Von Humanität
    Durch Nationalität
    Zur Bestialität.«[1]

Mit dieser ebenso lapidaren wie bitteren Feststellung umriß der Dichter Franz Grillparzer die ganze Tragödie seines Jahrhunderts, das erst seit kurzem unter dem Zeichen der Industriellen Revolution stand -- ein Jahr zuvor hatten Marx und Engels das 'Kommunistische Manifest' veröffentlicht. Im selben Jahr 1849 wies ein weiterer großer Altösterreicher, der tschechische Historiker Frantisek Palacky, in mahnenden Worten darauf hin, welche soziale Kraft zum bestimmenden Element im kulturellen, politischen und sozialen Leben Europas geworden war:

    »Was dem XVI. und XVII. Jahrhundert die kirchliche und religiöse Idee war, das ist für unsere Zeit das Princip der Nationalität. (...) Alle die Länder und Personen, besonders in Österreich, die heute noch in nationaler Beziehung indifferent oder apathisch sind, werden es nach zehn oder nach zwanzig oder nach dreißig Jahren nicht mehr sein, und so erlangen Motive im Staatsleben, die sich auf Nationalitätsverhältnisse gründen und Vielen jetzt noch unbedeutend zu sein scheinen, eine immer durchgreifendere Wichtigkeit. Ein jeder Regierungsmann, der die Wahrheit dieses Satzes sich verhehlen oder gar in Abrede stellen möchte, würde sich einer verhängnisvollen Täuschung hingeben; thöricht wäre auch jedwedes Eindämmen dieser Strömung der Zeit, und alle menschlichen Erfindungen und Gegenmittel gegen denselben hätten wohl keine andere Wirkung, als das Blasen gegen den Wind, durch das seine Richtung weder abgewandt noch geändert werden kann.«[2]

1848 hatte die Habsburgermonarchie in der Tat ihren 'Völkerfrühling' erlebt. Der Treue zur Dynastie und den historisch gewachsenen Kronländern stellte sich ein neues Ideal gegenüber. Bis zu diesem Zeitpunkt wirkte in Mitteleuropa sozialgestalterisch vor allem ein Landespatriotismus, der weniger kulturell und ethnisch, als vielmehr geblütsrechtlich-ständisch begründet war. Einem magyarischen oder polnischen Adligen war es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, daß etwa auch ein einfacher Bauer derselben ständischen Natio angehörte. Seit Beginn des Jahrhunderts erwachte jedoch unter Deutschen, Tschechen, Slovaken, Slovenen, Magyaren, Rumänen, Kroaten, Serben, Ruthenen, Italienern ein sprachlich bestimmtes Selbstbewußtsein, das sich zuerst im kulturellen Bereich manifestierte, bald aber auch, von den Parolen der Französischen Revolution erfüllt, politische und soziale Forderungen stellte. Doch auf welches Menschenbild fußte dieses Bewußtsein?

 

 

[1] Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hrsg. von Peter Frank / Karl Pörnbacher. 2 Bde. München 1960, Bd. I, S. 500.

[2] 'Über Centralisation und nationale Gleichberechtigung in Österreich', Národní Noviny vom 23. Dezember 1849, in: Frantisek Palacky: Österreichs Staatsidee. Prag 1866, S. 89f.

Das Ideal: Streben nach Individualität und Weltbürgertum
Viele Vertreter der Aufklärung, des Idealismus und der Frühromantik in Deutschland waren noch von der Vorstellung erfüllt, die das Wesenszentrum des Menschen, seinen geistigen Ich-Kern oder die »Entelechie« (Leibnitz, Goethe), in einer höheren, göttlich-geistigen Seinsordnung beheimatet sah. Diese 'geistige Ich-Sphäre' war in ihren Augen allen Menschen gemein, sie erhob sich über jenen Bereich, der den Menschen als Erdenbürger in einen bestimmten sprachlichen, rassischen, ethnischen oder blutshaften Zusammenhang stellt. Das Geist-Wesen, den verborgenen höheren Menschen in jedem irdischen Menschen, empfanden sie als einen »Wanderer zwischen den Sphären«, dem Reich des göttlichen Geistes und der irdischen Welt. Novalis schrieb:

    »Wenn ein Geist stirbt -- wird er Mensch. Wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist.«[3]

Das Ideal des 'Menschseins', der Humanität ging also von der Anerkennung eines höheren Seinszustandes im Menschen aus -- ja, es war das höchste Ideal jener Repräsentanten des deutschen Kulturlebens, nach diesem individuellen 'Höheren' im Menschen zu streben, es erzieherisch zu erwecken und in vollem Umfang auszubilden,

    »so daß jeder Mensch zuletzt eine Welt wird, zwar eine ähnliche Erscheinung von außen, im Innern aber ein eignes Wesen, mit jedem andern unausmeßbar. [...] Der ganze Lebenslauf des Menschen ist Verwandlung; alle seine Lebensalter sind Fabeln derselben, und so ist das ganze Geschlecht in einer fortwährenden Metamorphose.«[4]

Der naturgeschaffene Mensch könne in sich einen neuen Menschen gebären, so glaubte Herder, der dem Geistesreich der wahren Humanität entstammt.

    »Der größte Teil des Menschen ist Tier. Zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht, und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden. [...] Lebenslang will das Tier über den Menschen herrschen, und die meisten lassen es nach Gefallen über sich regieren. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; [...]. [...] Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der reinen, unsterblichen Humanität eine schwererrungene Krone. [...] Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt wie der unsre aus dem Zustande niedrigerer Organisationen, so ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken.«[5]

Herder hatte zudem erkannt, daß im irdischen Menschenwesen zwei Entwicklungsreihen -- die geistige und die naturhafte -- zusammenfallen, wodurch es sich grundlegend von den Gattungen der Tierwelt unterscheidet. Zwei Generationen vor Darwin schrieb er aus der Beobachtung der Natur heraus die Sätze:

    »Wahrlich, Affe und Mensch sind nie eine und diesselbe Gattung gewesen. [...] du aber, Mensch, ehre dich selbst! Weder der Pongo noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehn.«[6]

Persönlichkeiten wie Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Novalis oder Fichte betonten, daß gerade ihr »Nationalcharakter« die Deutschen dazu befähige, über die Nationalität hinaus die Ideale der Humanität, des ich-durchdrungenen Individualismus und des freien Menschentums auszubilden und der ganzen Menschheit zugute kommen zu lassen.[7] So schrieb etwa Friedrich Schiller:

    »Deutscher Nationalcharakter.
    Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens:
    Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.«[8]

Für Novalis bedeutete »Deutschheit« eine Mischung von »Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität«.[9] Goethe meinte, es sei »einmal die Bestimmung des Deutschen, sich zum Repräsentanten der sämtlichen Weltbürger zu erheben«.[10] Der Weltbürger mache sich die Anliegen aller Völker zueigen:

    »Überhaupt ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. -- Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und am heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet.«[11]

Vom »deutschen Volk« als einem naturhaft-ungestalteten Kollektiv hielt Goethe nichts, wie er Kanzler von Müller gegenüber betonte:

    »Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein. Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, das in ihnen liegt.«[12]

Zutiefst von der Gesinnung des höheren Menschentums durchdrungen, schrieb Herder:

    »Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. [...] Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: 'kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebaut werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.' Den Deutschen ist's also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen.«[13]

In dem Streben nach Individualität und menschheitlichem Weltbürgertum lag also für viele Idealisten der tiefere Sinn der deutschen 'Nationswerdung'. Bedingung hierfür sei die Pflege und Entwicklung des individuellen Ich, des eigentlichen Wesenskerns des Menschen. Die zu einer höheren geistigen Wirklichkeit aufblickende, nach Ichbewußtheit ringende Individualität kann demzufolge in sich den paradoxen Zustand erleben, daß sie über das Volkstum und die bloße Volkszugehörigkeit hinauswächst und sich gleichzeitig als Mensch schlechthin, als universaler Weltbürger und als einmaliges Glied einer brüderlichen Menschheitsgemeinschaft begreift.

 

 

[3] Novalis: Schriften. Hrsg. von Richard Samuel, H.J. Möhl, Gerhard Schulz. Stuttgart 1968 Bd. III, S. 98. Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen von Florian Roder: Novalis Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs. Stuttgart 1992, S. 219-224.

[4] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch VII/1. In: Herders Werke in fünf Bänden. Berlin-Weimar 1964, S. 152f.

[5] Ebenda, Buch V/6, S. 145-151.

[6] Ebenda, Buch VII/1, S. 155.

[7] Hierzu das wichtige Buch von Karl Heyer: Sozialimpulse des deutschen Geistes im Goethe-Zeitalter. Kressbronn/Bodensee 1954 (Wege der neueren Staats und Sozialentwicklung, 5).

[8] Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert. Bd. I: Gedichte / Dramen I. München 1958, S. 267.

[9] Brief an August Wilhelm von Schlegel vom 30. November 1797; in: Novalis: Schriften, Bd. IV, S. 237.

[10] Zit. nach Heyer: Sozialimpulse des deutschen Geistes im Goethe-Zeitalter, S. 180.

[11] Gespräch mit Eckermann vom 14. März 1830; in Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. Bd. XXIV: J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe. Zürich 1948, S. 733f.

[12] Gespräch mit Kanzler von Müller vom 14. Dezember 1808; in Goethe: Gedenkausgabe, Bd. XXII: Goethes Gespräche, 1. Teil. Zürich 1949, S. 527.

[13] Johann G. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 29. Brief; zit. nach Heyer: Sozialimpulse des deutschen Geistes im Goethe-Zeitalter, S. 179f.

Das mechanistische Weltbild
In der Zeitspanne von nur einer Generation begannen sich diese Anschauungen zu wandeln. Die bahnbrechenden Erfolge der positivistisch-mechanistischen Naturwissenschaft, die beginnende Technisierung und Mechanisierung des Alltagslebens verstärkten nach 1840 die Neigung, den Menschen als ein Geschöpf zu interpretieren, dessen Wesen und Eigenschaften allein aus der sinnlichen Wahrnehmung und aus der physischen Naturordnung zu erschließen wären. Diese Entwicklung vollzog sich zwar im gesamten Europa, doch wirkte sie sich in Deutschland auf besondere Weise aus, weil sie hier zu einer Verdrängung der älteren Anschauungen der Idealisten führte. Es zeigte sich nun, daß diese Anschauungen lediglich in einem begegrenzten Kreis aus der gebildeten Schicht entwickelt worden waren, ohne in das allgemeine Kulturgut eingezogen zu sein. Als die Angehörigen dieser Generation starben, wurde nach 1840 kein Weg gefunden, das idealistische Menschenbild vor dem Ansturm der mechanistischen Naturwissenschaften und ihres materialistischen und utilitaristischen Menschenbildes zu retten. An die Stelle Goethes, Schillers und Herders traten die Gedankenwelten von Karl Marx und Charles Darwin.

Wohl wurden die Begriffshüllen des 'Schönen, Guten und Wahren' als Bestandteil 'nationalen Bildungsgutes' weiterhin überliefert, doch wurde ihrem einstigen Inhalt immer weniger Verständnis entgegengebracht, so daß sich der jeglicher Substanz entleerte Begriff mit seinem Gegenbild zu füllen begann. Die Elemente der deutschen Kultur (im besonderen eben der Klassik und Romantik) wurden pervertiert, ver-kehrt, d.h. ins Gegenteil gekehrt und dabei nominal beibehalten. Es blieben Wortkadaver, die ihres Wahrheitsgehalts beraubt waren und nun mit Ressentiments ausgestopft wurden. Die Sprache des Idealismus sank zur verkitschten Phrase oder zur unverstandenen Abstraktion herab, wie Hermann Glaser feststellte:

    »[...] ein Schwulst der Bilder, die Betäubung des Logos durch mythifizierendes Geraune, eine Zerstörung der Begriffskerne, so daß leere Worthülsen allein verbleiben, eine Fülle falscher, schiefer oder unnötiger Genitive, um hochtrabende Feierlichkeit bemühte Inversionen, eine Häufung synonymer Worte.«[14]

Nach 1840 schwand auch die Begeisterung der älteren Generation, mit der sie in fremde Sprachen, Völker und Kulturen eingetaucht waren, um sie als »verschiedene Formen des einen Menschengeschlechts« (Herder) in ihren Besonderheiten liebevoll zu erforschen. Sie wich einem introvertierten, großdeutsch-'völkischen' Nationalismus, der den Wortschatz des Idealismus im materialistischen und biologistischen Sinn umdeutete. Das Aufgehen im 'Volkstum' wurde nun immer häufiger als selbstgenügendes Endziel betrachtet; man wertete Individualismus verächtlich als eine Niedergangserscheinung der dekadenten »Westvölker«. Doch in Wirklichkeit drang gerade jetzt auf sozialem, wirtschaftlichem und naturwissenschaftlichem Feld in großem Umfang Gedankengut aus der britisch-angelsächsischen Sphäre nach Deutschland. Dort waren diese Gedanken der britischen Kultur und Wesensart entwachsen und besaßen deshalb ihre innere Berechtigung. In Deutschland aber ging die bloße Imitation dieser Vorstellungen mit dem Verlust der eigenen kulturellen Identität einher; unter dem gekennzeichneten Gesichtspunkt war die innere Berechtigung hier nicht gegeben, und deshalb mußte sich die Mischung aus althergebrachten politisch-sozialen und modernen populär-naturwissenschaftlichen Ideen in zerstörerischer Weise auf die komplexen mitteleuropäischen Verhältnisse auswirken, nachdem man mit den eigenen höheren Kulturformen gebrochen hatte.

 

 

[14] Hermann Glaser: Spießerideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert. Neuauflage Frankfurt/M. 1988, S. 7f.

Nationalitätenkampf
In einer Zeit, als die Fähigkeiten zu instinktiver Gemeinschaftsbildung ebenso zu versiegen begannen wie die sozialen Ordnungs und Gestaltungskräfte vergangener Epochen, blieb demnach die Neugestaltung des sozialen Lebens durch Repräsentanten der europäischen Mitte auf der Grundlage der ichhaft durchdrungenen Empfindung einer höheren geistigen Wirklichkeit in den Ansätzen stecken. Es war noch nicht möglich, diese seelische Empfindung in eine konkrete, Geist-schauende Erkenntnis zu überführen. Stattdessen behaupteten sich diejenigen Kräfte, welche die Menschen Mittel- und Osteuropas in ihrer Sprache und Abstammung einkapseln wollten. Das an sich berechtigte, ja notwendige Erwachen der Völker östlich des Rheins traf auf keine einsichtsvolle Tatkraft, welche ihre individuellen Anlagen und Fähigkeiten einem größeren Ganzen, einem höheren Ziel hätte dienstbar machen können.

Die Vertreter des Goetheanismus versuchten zwar den Freiheitsimpuls der Französischen Revolution aus der politischen in eine kulturelle, allgemeinmenschliche, eher 'metapolitische' Sphäre zu überführen. Doch die Idee der politischen Bürgernation wurde von Napoleon auch über den Rhein getragen und entflammte während der Befreiungskriege auch die Herzen der Menschen in Mitteleuropa.

Je weniger man aber in den folgenden Jahrzehnten die kulturell-sprachliche Sphäre des Volkstums, die politisch-rechtliche Sphäre der Bürgergesellschaft und die auf den vererbten Blutkräften beruhende 'Abstammungsgemeinschaft' auseinanderzuhalten vermochte, desto schärfer gestalteten sich die Konflikte zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen. Die Bestrebungen der an den deutschen Sprachraum grenzenden Völker, ihre nationale Eigenheit im europäischen Rahmen zu entfalten, wurde in den deutschen Ländern vielfach schon um 1848 als Angriff auf die machtpolitische, kulturelle und soziale Stellung des Deutschtums bewertet. Nicht nur die 'völkischen' Burschenschafter, auch Marx und Engels sprachen verächtlich von dem »Völkerabfall«, den man der »gänzlichen Vernichtung oder Entnationalisierung« überlassen müsse.[15]

Der Österreicher Viktor Freiherr von Andrian-Werburg mußte als einer der Delegierten, die sich in der Frankfurter Paulskirche eingefunden hatten, um eine deutsche Nationalversammlung aus der Taufe zu heben, die überraschende Erfahrung machen, daß sich die Versammelten

    »unter den Czechen eine Volksklasse vorstellten, die den Heloten Griechenlands vergleichbar wäre.«[16]

Manche waren da aber schon radikaler; ein Graf Deym wollte

    »ein Riesenreich von 70 und womöglich von 80 oder 100 Millionen gründen und die Standarte Hermanns in diesem Reiche aufpflanzen und dastehen gerüstet gegen Osten und Westen, gegen die slawischen und lateinischen Völker, die Seeherrschaft den Engländern abringen, das größte, mächtigste Volk auf diesem Erdenrund werden; das ist Deutschlands Zukunft!«[17]

Wie aus einer anderen Welt wirken im Vergleich noch die klugen Worte Wilhelm von Humboldts aus dem Jahr 1816 -- damals war er preußischer Minister:

    »Niemand könnte daran hindern, daß nicht Deutschland [...] auch ein erobernder Staat würde, was kein ächter Deutscher wollen kann; da man bis jetzt wohl weiß, welche bedeutende Vorzüge in geistiger und wissenschaftlicher Bildung die deutsche Nation, solange sie keine politische Richtung nach außen hatte, erreicht hat, aber es noch unausgemacht ist, wie eine solche Richtung auch in dieser Rücksicht wirken würde.«[18]

Aber die unverblümte Selbstverständlichkeit, mit der selbst deutsche Liberale nach 1848 unter Berufung auf das Nationalstaatsmodell der Französischen Revolution, der État-Nation, und auf die vermeintliche Überlegenheit der deutschen Kultur Grenzverschiebungen und die Zwangsassimilierung anderer ethnischer Gemeinschaften rechtfertigten, rief vor allen Dingen unter den benachbarten Slaven heftige Reaktionen hervor, ging doch die Grenze des deutschen Sprachraums nach Osten und Südosten als Resultat jahrhundertelanger Siedlungsprozesse fließend in andere Sprachräume über.

Der Sozialdarwinismus, von den Briten Thomas H. Huxley und Herbert Spencer als sozialwissenschaftliche Theorie begründet, war nicht zuletzt durch seine Popularisierung in der Massenpresse während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum bestimmenden Denkmuster sozialer Interpretation geworden. Der Glaube an die Gesetzmäßigkeit der 'natürlichen Auslese', the survival of the fittest, durch territoriale, wirtschaftliche und militärische Vergrößerung beanspruchte das »Recht des Stärkeren«, der »überlegenen Rasse« und ihres Staates, im »Existenzkampf der Völker«.[19] Obwohl der Sozialdarwinismus dem gesellschaftlichen und sozialen Dunstkreis des viktorianischen Empire kongenial entsprach, fanden sich einige seiner radikalsten Vertreter nicht in England und Frankreich, sondern im mitteleuropäischen Raum. Dort übernahm man neben den primitivsten Schlagworten des Sozialdarwinismus jene Rassentheorien eines Gobineau, Lapouge oder Houston S. Chamberlain, welche die biologischen Eigenschaften des 'nordischen Ariers' als Kennzeichen des höheren Gott-Menschentums werteten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sozialdarwinistische Ideen im Zeitalter der Industrialisierung auch beim sogenannten »kleinen Mann« als Erklärung der Naturordnung angenommen wurden, hatte zur Folge, daß man das Verhältnis des 'Deutschtums' zu den benachbarten Ethnien zunehmend als 'Verdrängungskampf' bewertete, in welchem es nur Sieg oder Vernichtung geben konnte. Von Vertretern 'völkischer' Propaganda in Form von Artikeln, Broschüren und Pamphleten in der Öffentlichkeit verbreitet, beschwor diese Auffassung verstärkt nach 1880 den bevorstehenden Entscheidungskampf zwischen dem Deutschtum und dem Slaventum, das als 'fünfte Kolonne' einzig dem Vorherrschaftsstreben Rußlands diene. Indem man in alldeutschen und völkischen Kreisen den Nationalitätenkonflikt in erster Linie als biologisches und demographisches Problem wertete, konnte man zu dem Schluß gelangen:

    »Im Nationalitätenkampf kommt es nur auf die Menschenproduktion an.«[20]

Mit solchen Parolen wurde auch von den innenpolitischen Schwierigkeiten im Deutschen Reich abgelenkt, der wachsenden Unruhe im Industrieproletariat und der Ausbreitung marxistisch-klassenkämpferischer Parolen, die verdeutlichten, daß sich trotz der wirtschaftlichen Expansion an der sozialen Schichtung in Gestalt einer nach oben hin außerordentlich steil zulaufenden Pyramide seit 1850 wenig geändert hatte. Es erwies sich für die politische Entwicklung Deutschlands in immer stärkerem Maße als ein unheilerzeugendes Versäumnis, daß sich die Intellektuellen ebenso wie das gebildete Bürgertum aus der 'großen Politik' verabschiedet hatten, daß sie Kultur und Politik sorgsam trennten, ja als unvereinbare Gegensätze empfanden.[21]

So hatte das weitgehend apolitische Kulturleben, das sich in der wilhelminischen Gesellschaft entfaltet hatte -- kulturkritische und gesellschaftreformerische Strömungen ebenso wie die Avantgarde -- praktisch keinen Einfluß auf das Denken der Staatsführung. Den Kulturschaffenden galt Politik als etwas 'Gemeines', 'Garstiges'; politisches Denken wurde einer zahlenmäßig nicht unerheblichen, 'völkisch' und alldeutsch gesinnten Minderheit aus Adel, Staatsführung, Militär, Verwaltung, Wirtschaft, Industrie und Publizistik überlassen, deren pathosüberladene 'Nibelungenschwüre', krankhafter Geltungsdrang und Rechthabertum, spießiges Parvenu-Gehabe, bündische Biergelage, Schwertergerassel und pubertäres Kriegsgeschrei das Bild der Deutschen im Ausland nicht gerade vorteilhaft prägten.

 

 

[15] Zit. nach Peter Burian: Deutschland und das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie aus deutscher Sicht. In: Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch. Hrsg. von Robert A. Kann, Friedrich Prinz. Wien-München 1980, S. 398-411, hier 403.

[16] Constitutionelle Donau-Zeitung (Wien), 19. April 1848; zit. nach Jirí Koralka: Deutschland und die Habsburgermonarchie 1848-1918. In: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VI/2: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien 1993, S. 7.

[17] Zit. nach Michael Freund: Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neuausgabe München 1981, S. 409.

[18] Wilhelm von Humboldt: Über die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen, 30. September 1816. In: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hg. v. A. Flitner, K. Giel. 2. Aufl. Darmstadt 1969, Bd. IV, S. 347-417, hier S. 374.

[19] Hannsjoachim W. Koch: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973, S. 63-73, 87-99, 151-158.

[20] So der im Landwirtschaftsministerium tätige Oberregierungsrat Stumpfe alias Ekkehart Ostmann; zit. nach Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Paperback-Ausgabe 2. Aufl. Königstein/Ts. 1979, S. 143.

[21] Vgl. etwa Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 18661918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1980, S. 812ff.; Wolfgang J. Mommsen: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich. Frankfurt/M. 1990, S. 257-286; Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987, S. 50ff.

Pervertierung des "Deutschseins"
Preußen, das seit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts einen starken polnischen Bevölkerungsteil umschloß (um das Jahr 1800 waren drei von acht Millionen preußischer Untertanen Polen!), stellte jenen deutschen Fürstenstaat dar, in dem die oben gekennzeichnete Seelenhaltung am nachhaltigsten die sozialen und politischen Formen geprägt hatte. Aber auch hier bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Politikern wie Wilhelm von Humboldt, Hardenberg, vom Stein oder Altenstein, die charakteristischerweise zum großen Teil keine gebürtigen Preußen waren,[22] durchaus eine Möglichkeit, die Entwicklung des sozialen und nationalen Lebens in Bahnen zu lenken, die Preußen in ein vorbildhaftes Gemeinwesen hätten umwandeln können.

Nach dem polnischen Nationalaufstand von 1830 im rußländisch besetzten Kongreßpolen wurde dieser Kurs relativ toleranter, reformerischer Staatswirksamkeit abgebrochen, zunächst in friderizianisch-altpreußischer Tradition zur Festigung des konservativ-absolutistischen Einheitsstaates, nach 1840 aber immer mehr aus 'kulturkämpferischen', siedlungspolitischen und rassebezogenen Beweggründen. Schließlich schien Bismarcks Bündnispolitik mit Rußland nur möglich auf dem Rücken des »unerträglichen Nachbarn« Polen, das dem deutschen »Hammer« als »Amboß« zu dienen hatte. Deswegen empfahl der spätere Reichskanzler um 1860:

    »Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen; ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehn wollen, nichts andres thun, als sie ausrotten.«[23]

Kultusministers Altensteins Warnung vom Beginn des Jahrhunderts, eine Unterdrückung der nationalen Bestrebungen werde diese erst recht fördern und letzten Endes zur Unregierbarkeit des Staates führen, schien vergessen. Umsonst forderte auch der konservative Föderalist Constantin Frantz, einer der schärfsten Kritiker des Bismarck'schen Nationalstaates, die obligatorische Einführung einer slavischen Sprache an allen Gymnasien und Realschulen im östlichen Deutschland:

    »Mit den Westslawen und Südslawen auf freundschaftlichem Fuß zu stehen, muß für Deutschland als eine Lebensfrage gelten.«[24]

Das wachsende Selbstbewußtsein der sozial wie wirtschaftlich äußerst regen und innovativen polnischen Bevölkerung in den Provinzen Westpreußen und Posen bestätigte umgekehrt jene Stimmen, die für eine rücksichtslose Germanisierung eintraten und 1886 die Ausweisung von 26000 Polen ins benachbarte, zum Zarenreich gehörende Weichselland als Teil einer »neudeutschen Ostmarkensiedlungs-Politik« begrüßten. Das deutsche Volk habe lange genug leiden müssen an

    »seinem ins Krankhafte ausgebildetem Rechtsgefühl und seinem Mangel an gesundem politischen Egoismus.«[25]

Eine ähnlich rabiate Germanisierung im Namen »völkischer Einheit« wurde auch an den Dänen Schleswigs und im Elsaß vollzogen. Bei den Alldeutschen faßte man schon die »planmäßige rassische Höherentwicklung des deutschen Volkes« ins Auge und forderte die »Bekämpfung aller Kräfte, welche die völkische Entwicklung des deutschen Volkes hemmen oder schädigen«. Zu diesen »Kräften« rechnete man vor allen Dingen die Juden.[26]

Seit 1871 gab es dann zwar ein nationales Deutsches Reich, doch die 'Große Politik', die nationale Ehrsucht und die militärische Aufrüstung forderten ihren Preis. Da die deutsche Ich-Kultur aber nicht angeboren sein konnte, wie beispielsweise die englischen Kulturformen bereits in die seelischen Instinkte der Menschen gelegt waren, sondern erst durch innere Selbsterziehung, aus der Tätigkeit des Ich heraus erarbeitet und errungen werden mußte, waren es immer nur einzelne Individualitäten, die aus der breiten Bevölkerung herausragten.[27] Sozial bestimmend blieben die Mächte der deutschen Fürstengeschlechter und des deutschen Adels.

Das Seelengefüge wenn nicht aller, so doch allzuvieler Vertreter dieses Standes war jedoch in Gedanken-, Empfindungs- und Vorstellungsformen verhaftet geblieben, die seit dem frühen Mittelalter keine wesentliche Wandlung erfahren, ja oft noch nicht einmal jene seelische Umgestaltung, jene Läuterung triebhafter Wildheit durchlebt hatten, die durch die allmähliche Christianisierung in Mitteleuropa bewirkt wurde. Dies führte dazu, daß gerade die deutschen Territorialfürsten im Grunde schon seit dem Entstehen der bürgerlichen Städtewelt nach 1200 kein Verständnis für die sich wandelnden sozialen und politischen Anforderungen der Zeit aufbringen konnten. Diese spätgeborenen 'Quasi-Nibelungen' betrachteten den Untergang der ständisch-aristokratischen Ordnung, das Aufkommen des Bürgerstandes und des sozialen Befreiungsimpulses mit Abscheu oder Unverständnis und standen deshalb auch der Kultur des Idealismus und des Goetheanismus ihrem inneren Wesen nach fremd, teilnahmslos oder feindlich gegenüber.[28]

Umsonst hielt Friedrich Nietzsche, einsamer Rufer in der sich immer weiter ausbreitenden Geistes-Wüste des Deutschen Reiches, seinen Landsleuten entgegen:

    »Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab: bleibt es stehen, verkümmert es, so schließt sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, daß es versteinern will und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpunkte an das Ägyptertum war. Der also, welcher den Deutschen wohlwill, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.«[29]

Nietzsche rief seinen Zeitgenossen dabei noch einmal die Ideale Goethes in Erinnerung:

    Goethes »Stimme und [...] Beispiel weisen darauf hin, daß der Deutsche mehr sein müsse als ein Deutscher, wenn er anderen Nationen nützlich, ja nur erträglich werden wolle -- und in welcher Richtung er bestrebt sein solle, über sich und außer sich hinauszugehen.«[30]

Doch während das Bürgertum des Biedermeier seine Kräfte im Erwerbstrieb verausgabte, jede Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit des Obrigkeitsstaates möglichst scheute und sich lieber in die private Gartenlauben-Idylle zurückzog, behauptete sich sich im politisch-sozialen Bereich eine Strömung, die es neben der Geistesströmung der Idealisten schon immer gegeben hatte: Ihre Repräsentanten erlebten 'Deutschheit' nicht in der bewußtstrebenden Suche nach dem höheren Ich-Prinzip, sondern im Dumpf-Unterbewußten der im Blut wirkenden Kräfte.

Als eine eigentümlich-tragische Erscheinung in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt sich, daß diese Seelenart, die auf den Kräften des Blutes und seiner Vererbung, auf dem 'kriegerhaften' Soldatentum und der absolutistischen Staatsverherrlichung gründete, in welcher der Untertan in 'altväterlich-germanischer Gefolgschaftstreue' dem Herrscher 'nibelungentreu bis in den Tod' zueigen war, sich im Laufe des 19. Jahrhunderts über einen nicht unbeträchtlichen Teil des gebildeten Mittelstandes ausbreitete. Die Lehren Darwins trugen das ihrige dazu bei, denn sie gaben jener 'Nibelungen'-Auffassung, die das 'höhere Wesen' des Menschen in seinem biologischen Vererbungsstrom zu finden glaubte, einen pseudowissenschaftlichen Anstrich. Nicht in der freien Entfaltung der ichhaften Humanität, sondern in der 'Züchtung und Vermehrung des artreinen Blutes' erblickten die Repräsentanten dieser Strömung den 'nationalen Beruf'. 'Nationalität' (an sich eine politisch-soziale Kategorie) und 'Volkstum' (eine seelisch-kulturelle Kategorie) konnte von ihnen nur als Kennzeichen der 'Rasse' (biologistisch) verstanden werden, weil man die eigene Identität im Blut erlebte; für die demokratisch-nationalen und sozialen Forderungen der Zeit hatten sie meist nur Verachtung übrig.

Als eine Delegation des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments im Jahr 1849 dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. tiefbewegt die deutsche Kaiserkrone antrug, wies dieser den bürgerlichen »Reif aus Dreck und Letten«, an dem »der Ludergeruch der Revolution« hinge, schroff zurück.[31] Hingegen fand die Kaiserkrönung von 1871 im Spiegelsaal von Versailles unter einem Gemälde des »Sonnenkönigs« Louis XIV. statt, das die symptomatische Inschrift zierte: Le roi gouverne par lui-même (»Der König herrscht durch sich selbst«).[32]

Statt der von den besten Vertretern des Idealismus vorgelebten Individualisierung und Ichwerdung des Menschen, in deren Verlauf der Ich-Mittelpunkt als souveräner 'Geist-König' über die eigene Seelenwelt zu herrschen lernt, wurde in der breiten deutschen Gesellschaft, im Geistesschlaf des Materialismus versunken, das höhere Prinzip in verzerrter Form zunehmend nach außen, auf einen 'Kaiser', 'Fürsten' oder 'Führer' projiziert. Bereits im Jahr 1890 hatte Julius Langbehn behauptet:

    »Der monarchische Beruf des deutschen Volkes wird schon durch das Wort Volk, folk selbst ausgedrückt; denn dasselbe bedeutet ursprünglich Gefolge; zu einem Gefolge gehört aber notwendigerweise ein Führer.«[33]

An die Stelle des sich selbst führenden, aus eigener Entschlußkraft und freiem Willen handelnden Individuums trat so in einer im Rahmen der abendländischen Kulturentwicklung beispiellosen Ver-Kehrung und Pervertierung am Ende, im Jahre 1933, das in vorchristliche Bewußtseinsformen zurückgesunkene 'Volk der Geführten', das diese im höchsten Sinne ichlose, ja ichfeindliche 'Führung' mehrheitlich auch noch freudig bejahte: »Führer befiel, wir folgen dir!«

Allerdings verhinderte diese sich weitende Kluft in der seelisch-geistigen Entwicklung der deutschen Gesellschaft nicht die technische Modernisierung und Industrialisierung des Deutschen Reiches -- im Gegenteil: diese erfolgte mit solcher Geschwindigkeit, daß ein britischer Beobachter, der berühmte Journalist William T. Stead, um das Jahr 1900 feststellte:

    »Es gibt keine mehr amerikanisierten Städte als Hamburg und Berlin. Sie sind amerikanisch in der Schnelligkeit ihres Wachstums, amerikanisch in ihrer nervigen Thatkraft, amerikanisch in der weitgehenden Einführung schneller Transportgelegenheiten. Abgesehen von der Verschiedenheit der Sprache findet sich der Amerikaner in dem fieberhaft konzentrierten, thatkräftigen Leben von Hamburg und Berlin weit mehr zu Hause, als in den gelasseneren Städten Liverpool und London.«[34]

Letztlich konnte niemand von den politisch Verantwortlichen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns den sozial zersetzenden Kräften des 19. Jahrhunderts -- Nationalismus und Klassenkampf -- konkrete gestalterische Ideen entgegensetzen, welche ihre soziale Gestaltungsfähigkeit aus einem Menschenbild speisten, das um das wahre Wesen des Menschen, um das höhere geistige Selbst wußte. Von jenen, die ihre Gedanken auf eine solche Geistanschauung gründeten, wollte man weder etwas annehmen noch lernen. So blieb aufgrund des geistigen Versagens die zentrale Frage am Jahrhundertende ungelöst, auf welche Weise der Mensch sich über jenen Bereich erheben könnte, der ihn als Erdenbürger in einen bestimmten sprachlichen, rassischen, ethnischen oder blutshaften Zusammenhang stellt. Und niemand konnte den Mitteleuropäern die Verantwortung abnehmen, eine Antwort auf diese ihnen gestellte Frage zu finden.

Schließlich sollte die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Volk in Europa auf einem seelischen Element, einer seelischen Gemeinschaftlichkeit beruhen, und es war -- vielmehr: es wäre noch immer die ureigene Aufgabe der heutigen Europäer, sich dieser individuellen seelischen Qualitäten aus einer geistdurchdrungenen Anschauung bewußt zu werden, um einander in ihrer jeweils einmaligen seelisch-geistigen Volkskonfiguration zu erkennen.

Denn wie es schon der Slovake Ján Kollár, unter dem Einfluß von Herder und Goethe, 1836 treffend formuliert hatte:

    »Menschen und Völker, im schönsten Sinne des Wortes, werden erst durch die Anschauung des Ganzen der Menschheit, ohne welche die einzelnen Menschen nur Kinder, die Völker und Stämme nur Barbaren bleiben. Stämme und Völker die sich den Einflüssen und Berührungen mit anderen verschliessen, sind wie Wohnungen, in welche keine frische Luft kommt. [...] Das Leben der Menschheit ist Entwicklung der Vernunft oder Entfaltung der inneren Welt im Menschen. Völker sind Formen in denen sich die Menschheit entwickelt und gestaltet.«[35]

Haben wir das 19. Jahrhundert schon hinter uns gelassen? Kommt uns Zeitgenossen des aufgeklärten Expo-Jahres 2000 nicht manches bekannt vor? Haben die Worte Grillparzers für uns keine Gültigkeit mehr? Und können wir Ján Kollár heute tatsächlich noch verstehen?

 

 

[22] Vgl. Heyer: Sozialimpulse des deutschen Geistes im Goethe-Zeitalter, S. 216f.

[23] Bismarck an seine Schwester Malwine aus St. Petersburg am 26. März 1861; zit. nach Jan W. Tkaczynski: Die Geopolitik. Eine Studie über geographische Determinanten und politisches Wunschdenken am Beispiel Deutschlands und Polens. München 1993, S. 84.

[24] Constantin Frantz: Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland. Abt. 13. Chemnitz 1882-1883, Bd. II, S. 159.

[25] E. von Liebert: Nationale Forderungen und Pflichten. 1905, S. 911; zit. nach Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933. Hrsg. v. Harry Pross. Frankfurt/M. 1959, S. 276f.

[26] Alfred Kruck: Geschichte des Alldeutschen Verbands 1890-1939. Wiesbaden 1954, S. 130.

[27] Diesen äußerst wichtigen Aspekt betonte Rudolf Steiner in einem Vortrag vom 8. Dezember 1918, in: Rudolf Steiner: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. 2. Aufl. Dornach 1979, S. 149 [Gesamtausgabe Bd. 186].

[28] Hierzu ebenfalls Rudolf Steiner im Vortrag vom 12. April 1919, in: Vergangenheits und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen. 3. Aufl. Dornach 1980 [Gesamtausgabe Bd. 190], S. 162177.

[29] Menschliches, Allzumenschliches, 2. Teil; in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. 3. Aufl. München 1962. Bd. I, S. 852. [Hervorhebungen im Original.]

[30] Ebenda, 2. Teil; S. 844.

[31] Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung. München 1985, S. 94.

[32] Vgl. Ernst Deuerlein (Hrsg.): Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten. München 1977, S. 291.

[33] Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Ausgabe Weimar 1922, S. 141.

[34] William T. Stead: Die Amerikanisierung der Welt. Berlin 1902, S. 12.

[35] Ján Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation (1836), hrsg. von Milos Weingart: Rozpravy o slovanské vzájemnosti. Praha 1929, S. 87.


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