Stephen Velychenko:
National History as Cultural Process
A Survey of the Interpretations of Ukraine’s Past
in Polish, Russian, and Ukrainian Historical Writing
from the Earliest Times to 1914
Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, University of Alberta: Edmonton, Alberta 1992. XXXV, 283 S. ISBN: 0920862756
Shaping Identity in Eastern Europe and Russia
Soviet-Russian and Polish Accounts
of Ukrainian History, 1914-1991
St. Martin’s Press: New York, N.Y. 1993. 266 S. ISBN: 0312085524
Buchrezensionen von Markus Osterrieder
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Letztes Update: 28 Oct 2005
Erschienen in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43:4 (1995), S. 580-583
Im Jahr 1904 stellte der ukrainische Historiker Mychajlo Hruševs’kyj die bis dato allgemein übernommene Konzeption einer Geschichte Osteuropas, die dem klassischen, staatlich-dynastisch ausgerichteten Modell russischer Historiker wie Karamzin oder Solovev folgte, mit einem neuen, „rationalen Schema“ in Frage. Darin wies er u.a. auf die Notwendigkeit hin, die Geschichte des rußländischen Staates von der Geschichte der drei ostslavischen Völker methodisch zu trennen. Die damals von Hruševs’kyj in die Diskussion eingebrachten Argumente und Fragestellungen haben an Aktualität nichts eingebüßt, obwohl seine Antworten nicht mehr zu befriedigen vermögen. Bis heute ist die Diskussion über eine sachgemäße Konzeption der osteuropäischen Geschichte nicht verstummt. Insbesondere die neuere westliche Forschung ist inzwischen dazu übergegangen, die geschichtliche Entwicklung Rußlands nicht ausschließlich vom jeweiligen politischen Zentrum, sondern auch von den „Randgebieten“ her zu untersuchen. Dies führte zu teilweise beträchtlichen Korrekturen am traditionellen Bild der osteuropäischen Geschichte.
Stephen Velychenko, Research Fellow an der University of Toronto, hat sich in den zwei vorliegenden, unabhängig voneinander publizierten Monographien die Aufgabe gestellt, die wechselvollen Schicksale der osteuropäischen Historiographie am Beispiel der Ukraine zu analysieren. Aufgrund der Fülle des aufgearbeiteten Materials bieten die beiden Bücher nicht nur eine ebenso nützliche wie übersichtliche Einführung in die diversen Interpretationen und Konzeptionen sowie ihren jeweiligen sozio-kulturellen Hintergrund, sondern sie liefern auch eine Fallstudie über die Rolle der Historiographie bei der Ausformung von nationalem und sozialem Bewußtsein. Velychenko vergleicht die Darstellung einer Reihe von Eckdaten aus der ukrainischen Geschichte: die Plünderung von Kiev (1169), die polnische Einverleibung von Galizien nach 1340, die Unionen von 1386, 1569 und 1596, die Kosaken- und Bauernrevolten 1590-1648, die Verträge von Perejaslav/Perejaslavl’ (1654) und Hadjač/Hadziacz (1659), die Autonomie des Hetmanats (1654-1782) sowie generell die Sozialgeschichte in den Jahren 1500-1783. In Shaping Identity in Eastern Europe and Russia werden diese Themenbereiche noch durch die Analyse der Darstellung der ukrainischen Nationalbewegung und der revolutionären Ereignisse 1917-1921 ergänzt. Für National History as Cultural Process bezog Velychenko 160 Chroniken und Überblicksdarstellungen sowie 226 Monographien und Aufsätze in seine Arbeit ein, die den Zeitraum bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs abdecken. Der Hauptteil des Buches besteht aus drei Abschnitten, in denen der Verf. nacheinander die polnische, großrussische (rußländische) und ukrainische (ruthenische) Interpretation der ukrainischen Geschichte thematisiert. Zwei Appendices über zaristische Zensur und die Ukraine in der Kartographie sowie eine umfassende Bibliographie, in der allerdings deutsche Beiträge fehlen, runden das Buch ab. Viele Beobachtungen und Feststellungen Velychenkos mögen den Leser kaum überraschen. Gerade im 19. Jahrhundert wuchs unter dem Einfluß des empirischen Positivismus der Glaube an die objektive Beweiskraft der „Fakten“, die man dem Studium der Quellen entnahm. Doch mit dem zu bearbeitenden Material nahmen auch die Schwierigkeiten hinsichtlich der Selektion und Interpretation zu. Die wachsende Zahl an Quellenpublikationen, die Verfeinerungen der Methodik und die Spezialisierung der Forschung hätten deshalb, so der Verfasser, erstaunlich wenig Einfluß auf die grundlegende Interpretation der ukrainischen Geschichte gehabt. Vielmehr hätten weltanschauliche und politische Interessen kontinuierlich auf die Darstellung historischer Prozesse abgefärbt. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß zahlreiche Historikern als Aktivisten verschiedenster politischer Richtungen tätig waren und sich mitunter als erziehende Bildner „nationaler“ Identitäten verstanden haben. Ausschlaggebend für die Konzeption der Darstellung war nicht allein die empirische Methodik, sondern die subjektive, vorgeprägte Wahrnehmung des Gegenstands: sozialer Stand, Sprach- und Religionsgemeinschaft, Staat etc. Gerade am Beispiel der Ukraine wird die Problematik deutlich, die sich generell bei der Darstellung „nationaler“ Geschichte stellt und auf die Hruševs’kyj seinerzeit aufmerksam machte. So wirft Velychenko zurecht die Frage auf: “Can the modern nation-state serve as a category or unit of analysis for periods before it came into existence?” (S. XXV.) Er selbst tendiert dazu, die Bedeutung dieser Größe zu relativieren, obwohl auch er die Bezeichnung “Ukrainian nation” im historischen Rückblick zu großzügig und selbstverständlich verwendet. Denn ähnliche Zweifel können durchaus bei der Frage nach der Kontinuität der Bevölkerung und ihrer Selbstbezeichnung erhoben werden, - ein bereits im 19. Jh. heiß umstrittenes Thema. Dazu genügt ein Blick auf die komplizierte Bedeutungsgeschichte der Bezeichnung Rus, rus(s)kij. Polnische Historiker standen bis 1914 meist unter dem Einfluß Joachim Lelewels und Józef Szujskis, die in der Einbeziehung der ruthenischen Länder in das polnisch-litauische Reich die Erfüllung einer religiös-politischen Kulturmission sahen, der zufolge Polen-Litauen die Grenzen des Abendlandes nach Osten zu erweitern hatte; bei Oskar Halecki wurde zu Beginn des 20. Jhs. hieraus die „Jagiellonische Idee“. Aus Velychenkos Darstellung der polnischen Geschichtsforschung wird deutlich, daß Historiker unterschiedlicher Schulen häufig von der Vorstellung einer ethnisch übergreifenden „politischen Nation“ ausgingen, die einerseits noch im Ständegedanken der Szlachta wurzelte, andererseits Gedankengut der Französischen und Amerikanischen Revolutionen widerspiegelte. In der großrussischen (besser: rußländischen) Geschichtsschreibung hingegen herrschte eine Tradition vor, die bis in die Zeit der von Moskau vorangetriebenen „Sammlung der rusischen Länder“ zurückreichte. Diese Konzeption war in ihrer klassischen Form imperial-herrschaftsbezogen. Sie brachte weniger einen „russischen“ Nationalismus zum Ausdruck, sondern suchte vielmehr dynastisch-rechtliche, religiös-konfessionelle, kulturelle und ethnische Gründe, um die Selbstherrschaft der Romanovs zu legitimieren. Dazu gehörte auch die oft bemühte „Translatio Imperii“ aus Kiev in den Nordosten während des 13./14. Jhs., die in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. in Form eines angeblich kontinuierlichen Wanderungs- und Siedlungsprozesses der „geschichtsbildenden Hauptmasse des russischen Volkes“ (Ključevskij) Darstellung fand. Velychenko illustriert unfreiwillig die von ihm umrissene Problematik des Themas, wenn ihm in seiner nüchternen, um Parteilosigkeit bemühten Darstellung dann selbst der axiomatische Satz unterkommt: “Ukraine was a country that experienced discontinous statehood and a frequent turnover of elites” (S. 214). Damit reflektiert er die moderne ukrainische Geschichtsinterpretation, die sich im 19. Jh. herausbildete und deren vordringlichstes Ziel es war, die Kontinuität einer eigenständigen „allukrainischen“ Identität von L’viv bis Charkiv so weit wie möglich in die Vergangenheit zu projizieren. Dominierte im 19. Jh. unter dem Einfluß romantischer Strömungen ein populistischer Ansatz, der in erster Linie die Geschichte des einfachen „Volkes“ nachzeichnen wollte, so verwiesen mit dem Erstarken des integralen Nationalismus viele Historiker gegen Ende des Jahrhunderts auf eigenstaatliche Traditionen, die unter rußländischer und polnischer Herrschaft vorübergehend außer Kraft gesetzt worden seien. Insofern Geschichtsschreibung in Osteuropa häufig als politische Waffe instrumentalisiert wurde, hatten jene Themenbereiche zu leiden, die sich nur schwer einer bestimmten Richtung zuordnen ließen und gerade den fließenden Übergang religiöser, kultureller, politischer oder ethnischer Identitäten exemplifizierten. Nach Velychenko gehört dazu die Frage der rechtlichen Stellung der Unierten Kirche, die von ukrainischen, polnischen und russischen Historikern gleichermaßen venachlässigt worden sei (S. 220). Zwar weist Velychenko mit Recht darauf hin, daß russische Historiker bei der Formulierung gesamtsowjetischer Konzeptionen nun wieder den Ton angaben und dabei auf die progressive, führende Rolle des „älteren Bruders“, des „großen russischen Volkes“, verwiesen, doch läßt sich diese Tendenz kaum auf die Feststellung reduzieren: “historiography in the USSR continued to legitimize Russian domination of a multinational Eurasian state” (S. 208). Denn aus Velychenkos Darstellung tritt schon durch die Verwendung der sprachlichen Terminologie des Englischen nicht deutlich hervor, in welchem Maße sich hinter der Bezeichnung „russisch“ (russkij) das imperiale „rußländisch“ (rossijiskij) verbarg. Eines der immer noch nicht befriedigend aufgearbeiteten Probleme der ostslavischen Geschichte ist gerade die Dichotomie von herrschaftlichem und ethnischem Bewußtsein, welches im Falle des Russentums seit dem Raskol im 17. Jh. deutlich auseinanderzuklaffen begann. Dieser „Riß“ bildet mit einen Grund für den relativen Mangel an innerrußländischer föderalistischer und regionaler Geschichtsschreibung nicht nur während der Sowjetzeit. Auch für die Geschichte der Ukraine und Weißrußlands ist jenes Problem von grundlegender Bedeutung. Die marxistisch-leninistische Historiographie glaubte es dadurch gelöst zu haben, indem sie die Existenz eines „alten rusischen bzw. ostslavischen Volkes“ postulierte, womit sie zugleich die „Befreiung“ und die „Wiedervereinigung“ der westrusisch-ruthenischen Gebiete mit Rußland rechtfertigte. Im zweiten Teil von Shaping Identity in Eastern Europe and Russia, das über weite Teile dichter und packender verfaßt ist als National History, geht Velychenko der Frage nach, inwieweit die marxistische Ideologisierung nach 1945/49 die grundlegenden Interpretationen der polnischen Geschichtsforschung bezüglich der Ukraine veränderte. Während sich in der Zwischenkriegszeit viele Untersuchungen mit der Frage der Legitimität der polnischen Herrschaft über die Ukraine sowie mit Beispielen polnisch-ukrainischer Zusammenarbeit beschäftigten, wobei die Vorstellung der polnischen Kulturmission weiter diskutiert wurde, gehörte gerade die „Jagiellonische Idee“ nach 1949 zu den am meisten angegriffenen Konzeptionen, da sie den von Moskau ausgehenden Richtlinien widersprach. Der Verf. beschließt das Buch mit einem Ausblick auf die Historiographie während der Phase von Perestrojka und Glasnost’, wobei er den Wunsch äußert, daß die russischen und ukrainischen Historiker in den neunziger Jahren nicht der “tempation to become latter-day Treitschkes” unterliegen mögen (S. 222) – nämlich als Apologeten einer Nationalstaatsverherrlichung aufzutreten. Diesem Wunsch kann man sich nur anschließen. |
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